Es gibt Dinge, die passen eigentlich überhaupt nicht zusammen und sind doch so dermaßen Berlin. Zum Beispiel das Zweisternerestaurant Coda, das ausschließlich Menüs kredenzt, die aus Desserts bestehen. Da heißt es dann: „Aubergine, Pekannuss, Apfelbalsamico, Lakritzsalz“ oder „Süßkartoffel, Schmand, Apfel, Shiitake“. Diese kulinarische Besonderheit wird aber nicht in einer piekfeinen Gegend aufgetischt, sondern in Neukölln.
Dort, wo viele Menschen von Sozialleistungen leben, wo Deutsch nicht die meistgesprochene Sprache auf den Straßen ist und eine Brezel beim benachbarten Bäcker noch einen Euro kostet. Dort, wo es vor allem Dönerbuden gibt, wo Mäc-Geiz vorn am Kottbusser Damm mit „50 Prozent Rabatt auf alles“ wirbt und mancher Späti sicherheitshalber vergittert ist. In dieser Gegend serviert das Coda feinste süße Menüs für 250 Euro. Das sind die Gegensätze, die den Reiz des neuen Berlin ausmachen. „Dieses Jahr wird ein hartes Jahr für unsere Branche, ein Jahr mit vielen Pleiten“, sagt der Coda-Geschäftsführer Oliver Bischoff. „Aber uns wird es am Ende des Jahres noch geben.“
Wir leben in der unangefochtenen Hauptstadt der Vielfalt, mit 21.064 gastronomischen Betrieben auf engem Raum: von Kneipen und Restaurants über Imbisse, Eiscafés und Bars bis zum Fine Dining der Sternegastronomen. Doch diese Vielfalt ist gefährdet. So sehen es jedenfalls die Wirte.
Es ist der dritte Tag des neuen Jahres, und nicht nur in Nordneukölln sind bei vielen Kneipen nachmittags die Türen noch zu. Mitunter ist nicht ganz klar, ob das noch die Nachwehen der Silvesterfeierlichkeiten sind oder ob sie gar nicht wieder öffnen werden. Vor diesem Januar 2024 haben sich die Gastronomen lange gefürchtet. Es ist der Monat, da die Regierung für Teile der Branche eine höhere Mehrwertsteuer verfügt hat. In der Corona-Zeit wurde sie extra abgesenkt, damit die Wirte eine Überlebenschance haben. Nun wurde die Steuer für Speisen wieder von 7 auf 19 Prozent hochgesetzt.
Dabei hatten die meisten Wirte ihre Preise bereits im Vorjahr erhöht. Nach den Ausfällen während der Pandemie, nach den Preisexplosionen für Energie und Lebensmittel durch den russischen Angriff auf die Ukraine und nach einer Inflation 2022 von 7,9 Prozent, die höher war als während der Ölkrise 1973.
Nun geht die Angst um, dass die Berliner gastronomische Vielfalt schweren Schaden nehmen könnte, weil die Leute zuerst beim Essengehen kürzen. „Wir rechnen mit einer Pleitewelle“, sagt Thomas Lengfelder, der Geschäftsführer des Berliner Hotel- und Gaststättenverbandes (Dehoga). „Die Stimmung bei den Gastronomen ist mies“, sagt er. „Sehr, sehr mies.“ Lengfelder zufolge habe die Branche doch vom Kanzler Olaf Scholz und Finanzminister Christian Lindner die Zusage erhalten, dass der niedrigere Steuersatz bleiben werde. Doch dann kam das vernichtende Urteil des Verfassungsgerichts zum Haushalt. „Und da wurde als allererstes für uns die Steuer erhöht“, sagt er. „Ohne Ankündigung und Rücksprache.“ Deshalb sei die Stimmung bei den Wirten so angeheizt. Vergleichbar mit der Wut der Landwirte, die die Kürzungswelle der Regierung ebenfalls heftig trifft und die seit Wochen protestieren.
„Wir haben zwar 200.000 Gastrobetriebe bundesweit und zwei Millionen Beschäftigte“, sagt Lengfelder. „Aber wir haben keine 1000 Traktoren, mit denen wir vors Kanzleramt rollen können.“ In der Corona-Zeit gingen bereits 30.000 Gastrobetriebe bundesweit ein, nun wird mit 13.000 weiteren gerechnet. „Ich hatte vorhin eine Wirtin am Telefon, die hat nun wegen der Steuer ihre Preise erhöht und fürchtet, dass keiner kommt“, sagt er. „Sie war den Tränen nahe.“
Im Sternerestaurant Coda ist die Stimmung locker. Hier regiert eine junge Küchenchefin, Julia Leitner, der Ton ist konzentriert, nicht diktatorisch. Es wird reichlich gelacht bei der Arbeit. Am Abend wird es voll sein. Und obwohl das Restaurant erst um 19 Uhr öffnet, herrscht nicht erst am Nachmittag rege Betriebsamkeit, die ersten Mitarbeiter sind seit 8.30 Uhr da.
Draußen sind ringsum die Hauswände bunt besprüht, eine typische Neuköllner Mischung aus: „Fick Bullen“, „Death to Israel“ und „Die Sonne, das bist du“ auf Französisch. Drinnen im Gastraum dominieren die Farben Schwarz, Anthrazit und Grau, die den kleinen Raum recht dunkel machen. Von der Decke hängen schmale Röhren, aus deren Enden die Lampen leuchten – genau auf die Mitte der Tische. „Das ist unser Konzept“, sagt der Geschäftsführer Oliver Bischoff. „Hier konzentriert sich alle Aufmerksamkeit auf die Teller, die auf den Tisch kommen.“
Bischoff ist der Richtige, um die Lage der Wirte einzuschätzen. Weil er kein Koch ist, sondern – um im Bilde zu bleiben – auch über den Tellerrand schaut. Der 44-Jährige ist gelernter Tischler und studierter Industriedesigner. Er gründete 2006 mit Danilo Dürler die Agentur Ett La Benn, die Gastronomiekonzepte erstellt, von der Idee bis zum fertigen Restaurant. „Irgendwann mussten wir beweisen, dass das, wovon wir reden, auch funktioniert“, sagt er. Deshalb gründete er mit dem Koch René Frank 2016 das Coda.
„Hier ist so gut wie alles Handarbeit“
Bischoff ist ein Branchenkenner und soll erklären, ob die Steuererhöhung tatsächlich gefährlich ist für die Gastronomen. Und vielleicht kann er auch sagen, warum die Gewinnspanne bei Ketten wie McDonald’s höher ist als bei einer Sterneküche.
Zunächst aber geht der Blick in die Küche. Dort steht Milan Schock und bereitet gerade ein Dessert vor. Er will halbrunde Schalen fertigen. Neben ihm ein Topf mit einer orangefarbenen Flüssigkeit. „Eine Möhrenreduktion“, sagt die Küchenchefin Julia Leitner. Schock taucht zuerst eine Kelle in einen Behälter mit fast minus 200 Grad kaltem Stickstoff, dann tunkt er die Außenseite der tiefgefrorenen Kelle kurz in die Flüssigkeit. Die friert sofort an der Kelle an. Bevor sie durchgefroren ist, bestreut Schock sie mit einem grünen Pulver. Es ist eine selbstgefertigte weiße Schokolade, die mit Karottengrün eingefärbt ist. Auf dem Bogen der Kelle sitzt nun eine perfekte orangefarbene Halbkugel mit einer krisseligen Außenhaut. Milan Schock hält die Kelle noch mal kurz in den Stickstoff. Dann nimmt er die Halbkugel von der Kelle und stellt sie ins Eisfach. Es ist das Gefäß, das später mit geschäumtem Joghurt gefüllt wird, mit Haselnüssen, Ingwer-Confit und Limettenkaviar.
Was zudem im Coda auffällt: das viele Personal. Das Restaurant hat nur 25 Plätze, doch am Nachmittag arbeiten hier neun Mitarbeiter ganz geschäftig. Und dann heißt es auch noch, dass zwei krank sind. „Das ist es eben, was unsere Küche so besonders macht“, sagt der Geschäftsführer Bischoff. „Hier ist so gut wie alles Handarbeit.“ Die Köche pressen zwar keine Oliven fürs Öl oder stellen Essig her. „Aber alles andere machen wir selbst“, sagt der 44-Jährige. „Andere Sterneköche lassen sich die Schokolade liefern, wir aber machen sie aus Kakaobohnen selbst.“
Diese Handarbeit, dieser Aufwand, dieses wochenlange Tüfteln und Ausprobieren an jedem Gericht hat eben seinen Preis. Und doch wird nicht etwa in der Sternegastronomie das ganz dicke Geld gemacht, sondern in den Fast-Food-Ketten. „Je teurer ein Restaurant, desto niedriger der Profit“, sagt Bischoff.
Die Rechnung ist einfach: In einem klassischen Restaurant darf die Ware nicht mehr als 10 bis 15 Prozent kosten, sonst ist wegen der übrigen Kosten kein Gewinn zu machen. Beim Fast Food wird der Wareneinsatz auf fünf Prozent geschätzt, bei Pommes noch weniger. Das sorgt für eine enorme Gewinnspanne – und die Masse spült dann das Geld in die Kasse. Bei Burger-Ketten steht zudem nur wenig Personal hinterm Tresen. Hier im Coda sind es elf Mitarbeiter. „Bei uns liegen die Personalkosten bei weit über 50 Prozent“, sagt Bischoff.
Deshalb schmerzt die Steuererhöhung die echten Wirte viel mehr. Dazu kommt, dass die Steuer auch noch ungerecht ist, klagen Branchenvertreter wie Thomas Lengfelder von der Dehoga. Denn für Pommes to go oder für geliefertes Essen bleibt der niedrige Steuersatz. „Kein Politiker kann erklären, warum eine Bratwurst auf dem Pappteller im Stehen am Stand mit sieben Prozent besteuert wird, aber eine Bratwurst auf dem Porzellanteller im Restaurant nebenan mit 19 Prozent“, sagt Lengfelder. Die Steuererhöhung schade den Restaurants und subventioniere Burger-Ketten und die Lieferdienste.
Schon jetzt übersteht nur ein Drittel aller Gastrobetriebe die ersten fünf Jahre, und wenn irgendwo in Berlin eine klassische Gaststätte schließen muss, zieht oft – wenn überhaupt – eine Frittenbude ein, denn die kann durch niedrigere Steuern mehr Gewinn machen. Auch in Berlin wandelt sich die Vielfalt immer mehr zum Pommes-Burger-Einerlei.
Und die Gastrowelt ist ein verrückter Steuerdschungel. Getränke werden auch to go mit 19 Prozent besteuert, ist aber im Cappuccino deutlich mehr Milch als Espresso, sind nur 7 Prozent fällig, weil Milch als Grundnahrungsmittel niedriger besteuert wird.
Oft kennen sich die Kellner mit den Regeln gar nicht aus. So war es auch auf dem Weg zum Coda in einem Restaurant mit vietnamesischer Küche in Friedrichshain. Die Frage nach den neuen Steuern löst erst mal fragende Blicke aus. „Ich habe keine Ahnung, ob die schon drauf ist“, sagt der Kellner und schaut auf die elektronische Kasse. „Macht die das nicht von ganz allein?“, fragt er den Gast. Auf der Rechnung stehen noch die alten Steuersätze. Er tippt auf der Kasse herum, versucht es zu ändern und scheitert. „Da muss ich wohl erst einen Fachmann fragen. Ihr habt Glück: Heute ist es noch mal billiger.“
Steckt die Mafia dahinter?
Bei den Imbissbuden müsste die Lage entspannt sein, da sie nicht betroffen sind. Trotzdem wirkt sich die Debatte aus. „Gefühlt haben wir weniger Gäste“, sagt ein Mann in einem Imbiss in der Nähe des Bahnhofs Frankfurter Allee. „Die Leute denken bestimmt, dass auch bei uns die Preise gestiegen sind.“
Wer sich in der Branche umhört, erfährt auch von anderen Veränderungen. Wenn keine Kartenzahlung möglich ist, dann war das früher ein Indiz dafür, dass ein Lokal nicht ganz korrekt geführt wird. Dann hieß es: Da steckt irgendeine Mafia dahinter, da wird Geld gewaschen. Nun heißt es: Die Wirte müssen ein bis vier Prozent an die Kreditkartenfirmen abführen. Das wollen sich immer mehr Wirte nicht leisten und sagen: Cash only. Sie klagen ohnehin, dass die Umsätze noch deutlich unter dem Niveau von vor der Pandemie liegen.
Zurück im Coda. Auch der Geschäftsführer Oliver Bischoff sagt, dass etwa 30 Prozent weniger Gäste kommen. Manche waren alle zwei Monate da, nun sieht er sie nur noch einmal im Jahr. Das hat Folgen. Nur ein verschwindend kleiner Teil der Wirte hat genügend Rücklagen, um nun bei höheren Steuern eine wirtschaftliche Durststrecke zu überstehen. „Auch bei uns bedeutet die Steuererhöhung, dass am Ende des Jahres ein sechsstelliger Betrag fehlt.“ Das sei ja noch planbar, sagt er. Dramatisch sei es, wenn Köche gehen. „Der Verlust eines Mitarbeiters kostet uns einen fünfstelligen Betrag.“ Die Suche nach neuen Leuten ist teuer, auch das Anlernen für die speziellen Gerichte. Und manche müssen kündigen und wegziehen, weil sie sich die Mieten in Berlin nicht mehr leisten können.
Auch Bischoff geht von einer Pleitewelle in der Branche aus. Zwar sind die Abstandsregeln der Pandemie vorbei, aber der Januar ist der schlechteste Monat für die Gastronomie. Hoffnung macht: Die Grüne Woche darf ab dem 19. Januar wieder Publikum empfangen, Hunderttausende werden zum Funkturm pilgern, Zehntausende internationale Gäste Geld in die Stadt bringen. Es stehen noch ein paar andere große Messen und Kongresse an, bei denen ein Gast noch mal mehr als 200 Euro pro Tag in der Stadt ausgibt, oft auch in Restaurants. Und schließlich wird im Sommer die Fußball-EM auch in Berlin für zusätzliche Besucher sorgen. Touristen geben mehr Geld aus und sind höhere Preise gewöhnt. Dabei haben die Wirte in 23 von 27 EU-Staaten einen niedrigeren Steuersatz.
Die Menschen kommen nicht nach Berlin, weil es hier auch McDonald’s oder Burger King gibt, sondern wegen der gastronomischen Vielfalt. Und auch wegen der Sternegastronomie wie im Coda in Neukölln. Oliver Bischoff weiß, dass sich die allermeisten Berliner ein Essen bei ihm nicht leisten können. Das ist nicht die Zielgruppe, sondern die zahlungskräftigen Gäste, die in die Stadt kommen“, sagt er. „Viele in Berlin haben noch immer nicht erkannt, wie wichtig die Gastronomie für diese Stadt ist, auch solche Restaurants wie wir.“
Sternegastronomie gibt es generell nicht allzu oft, aber in Berlin gleich 23 Mal. „Es gibt Gäste, die nehmen den Guide Michelin sehr ernst und fahren gezielt einzelne Restaurants ab.“ Das seien Gäste, die rings um einen Abend im Coda einen Kurzurlaub gestalten. „Die kommen nur nach Berlin, weil es Orte wie uns gibt.“
Die Küchenchefin Julia Leitner spurtet aus der Küche, greift sich ein Laptop und setzt sich an einen Tisch. Die anderen kommen dazu, ebenfalls mit Laptops, mit Blöcken, mit Zetteln. Sie gehen die Tage durch und die Gerichte: Wann erscheinen welche Gäste? Welche Sonderwünsche haben sie? Bei diesen Preisen wird möglichst alles erfüllt. Die Chefin zählt auf, wie viele Veganer an welchem Abend vorbestellt haben, wie viele mit Laktose-Intoleranz, wer keinen Koriander mag, kein Seafood, keine Pilze. Dann sagt sie: „Hier verträgt jemand keinen Zimt. Wo haben wir Zimt drin?“ Eine Kollegin sagt: In den eingeweckten Zwetschgen. Und schon planen sie eine Alternative. Echter Service „Made in Berlin“.
Quelle: Berliner Zeitung, Beitrag von Jens Blankennagel vom 6. Januar 2024